Die deutsche Industrie steht unter Druck. Neben der Konjunkturschwäche stellen sich grundsätzliche Fragen. Strukturwandel und Transformation fordern vor allem mittelständische Automobilzulieferer. RATIO KOMPAKT sprach mit dem eremitierten Professor für Betriebswirtschaftslehre Horst Wildemann.

RATIO KOMPAKT: Herr Prof. Wildemann, wie schätzen Sie die Aussichten für die Zukunft ein?

Wenn wir an die technologischen Trends denken, kommen wir an der Elektromobilität nicht vorbei. Die Anzahl der mechanischen Komponenten ist aber bei einem Elektrofahrzeug deutlich geringer. Rund 40 Prozent der Wertschöpfung bei einem Elektrofahrzeug liegen in der Batterie, und darin sind andere Technologieführer. Entsprechend kann ich eine gewisse Beunruhigung verstehen. Einfach so weiter zu machen, wird für die meisten kaum möglich sein. Aber die Zulieferer haben immer noch genug Zeit, sich neue Geschäftsmodelle, neue Technologien und vor allem neue Alleinstellungsmerkmale zu erarbeiten.

Als Ingenieur, Unternehmensberater und Professor haben Sie sich seit den 1980er-Jahren einen Namen gemacht, Stichwort schlanke Produktion. Wie sehen Ihre Rezepte heute aus? Was empfehlen Sie mittelständischen Unternehmen?

Viele Ansätze gelten nach wie vor. Manche Konzepte feiern heute im Rahmen der digitalen Transformation eine Renaissance. Nehmen sie die Modularisierung - ein bewährtes Konzept. Durch Industrie 4.0 ändern sich die Produktionsprozesse: Maschinen kommunizieren miteinander über standardisierte Schnittstellen, agile Bearbeitungsinseln sind voll flexibel. Für ungeplante Auftragslagen muss man Standardkapazitäten variabel zu- oder abschalten können. All das wird nur möglich, wenn die Modularisierung als Ordnungssystem in der Produktion verankert ist.

Begriffe wie Agilität, Künstliche Intelligenz und Machine Learning sind heute in aller Munde. Für alle neuen Konzepte lassen sich auch im Mittelstand sinnvolle Applikationen finden. Agilität ist im Prinzip eine neue Art des Führens. Eigenverantwortliche Teams werden dadurch gestärkt.

Design Thinking ist zwar ein neues Wort, das Prinzip dürften viele aber kennen: Es geht um die kreative Lösungsfindung mit einer starken Gewichtung der Kundenanforderungen. In Workshops entwickeln interdisziplinäre Teams mögliche Prototypen. Das machen wir in der Produktklinik bereits seit mehr als 20 Jahren. Es bietet sich an, mit Pilotprojekten zu starten. Erfolge haben dann eine Signalwirkung - und die weitere Transformation kann starten.

Zulieferer haben mit dem Preisdruck ihrer Auftraggeber und mit den hohen Tarifabschlüssen der vergangenen Jahre zu kämpfen. Nicht jeder kann seine Produktion einfach ins Ausland verlagern. Haben Sie alternative Konzepte?

Die Antwort kann nur sein, die Innovationsführerschaft zu suchen und durch höheren Nutzwert für den Kunden dafür zu sorgen, dass er unsere Lösungen vorzieht - auch wenn sie teurer sind. Ich war vor kurzem bei einem Werkzeugbauer für Motoren und Abgasanlagen. Auch wenn für Elektromotoren noch Werkzeuge gebraucht werden, kann es sein, dass ihm Kunden wegbrechen. Gleichzeitig hat er große Probleme durch den Low-Cost-Wettbewerb im Werkzeugbau aus China. Was hat er gemacht? Eine Technologieoffensive mit Additive Manufacturing! Der Einsatz von 3D-Druck im Werkzeugbau ist sehr innovativ: Es lassen sich komplexe Geometrien und dünne Wandstärken bei gleicher Materialqualität herstellen - für die Wandungen bei Elektromotoren eine sehr sinnvolle Sache. Außerdem lassen sich niedrigere Zykluszeiten realisieren - ein technologisches Alleinstellungsmerkmal, das vor Low-Cost-Imitaten schützt.

Wenn die Zulieferindustrie das eigene Know-how und Domainwissen für disruptive Innovationen nutzen kann, mache ich mir wenig Sorgen. Und Komponentenlieferanten sind deutlich angreifbarer als System- oder Modullieferanten.

Die Unternehmensdynamik und die Arbeitsproduktivität haben nachgelassen. Würden Sie das Management dafür verantwortlich machen?

Ich glaube nicht, dass das wirklich so ist. Fakt ist aber, das gute Führung wichtiger wird denn je - trotz Agilität. Agile Teams können sich in zwar in Teilen selbst steuern. Aber anders als im Bienenstock erfordern disruptive Technologien und digitalisierte Ökosysteme ein Nachsteuern des eigenen Geschäftsmodells. Selbstorganisation funktioniert nur begrenzt, wenn alles im Wandel ist. Die Aufgabe guter Manager ist weniger das Nachkontrollieren von Arbeitsergebnissen, sondern das Formulieren überzeugender Visionen. Also: Mehr Orientierung, weniger einengende Vorgaben.

Welchen Stellenwert hat die Digitalisierung in diesem Kontext, und welche neue Rolle schreiben Sie den Mitarbeitern zu, vor allem in der Produktion?

Die größte Schwierigkeit für Mittelständler ist, den Überblick über alle am Markt vorhandenen Technologien und Anwendungen zu behalten und herauszufinden, welche Applikationen wirklich Wert stiften. Häufig starten Digitalisierungsprojekte mit dem Finden sinnvoller Anwendungsfelder. Ich rate den Kunden deshalb oft, mit einem unabhängigen, erfahrenen Partner in ein Digitalisierungsprojekt zu starten. Produktionsmitarbeiter müssen hier stark eingebunden werden. Sie sind meist diejenigen, die genau wissen, wo die Probleme in der Produktion liegen, und da sollte man angreifen, denn: Digitalisierung ist kein Selbstzweck.

Braucht es mehr Mittel für die Forschung für die Transformation von Wissen in wirtschaftlichen Erfolg?

Sicherlich, aber wir brauchen auch Übersetzer zwischen technologischer Möglichkeit und betriebswirtschaftlich Sinnvollem - und praktikable Einführungskonzepte für die Unternehmen.

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