In der Wirtschaftswelt von heute sind Veränderungen mehr Regel als Ausnahme. Changemanagement gehört aufgrund der komplexen Anforderungen an Unternehmensführung und HR zu Recht zu den Königsdisziplinen des Managements. Konzentrieren wir uns darauf, wie Mitarbeitende den Strukturwandel erleben, können wir mithilfe eines einfachen Phasenmodells etwas Ordnung in das Geschehen bringen. Das ist von großem Wert, weil Verstehen nicht nur eine kompetentere Begleitung ermöglicht, sondern ungünstige Polarisierungen und latente Abwertungen unwahrscheinlicher werden lässt.
Wir gehen dabei davon aus, dass Unternehmen, so lange sie stabil erscheinen, die Stabilität immer wieder aufs Neue herstellen. Dabei sind sie konservativ: So lange keine Krise deutlich macht, dass das Bewährte nicht mehr trägt, oder sich die Umwelt erheblich verändert, nutzt sie bewährte Muster und Pfade. Das ist effizient. Hat man dies verstanden, kann man auch als innovativer Kopf einsehen, dass Stabilität ein kostbares Gut ist und Innovationen ihr gegenüber immer unter Rechtfertigungsdruck stehen. Das ist Selbsterhalt. Dass es oft gute Gründe für eine Veränderung gibt, steht auf der anderen Seite der Gleichung.
Die Change-Uhr
Ein Blick in die (anonymisierte) Praxis
Die Wunderlich GmbH ist ein traditionsreicher Werkzeugmaschinenbauer. Rund 130 Köpfe zählt das patriarchalisch geführte Familienunternehmen. Trotz der angespannten Konjunkturlage 2020/21, der immer stärker spürbaren Konkurrenz der Global Player und den Auswirkungen der Coronakrise profitiert das Unternehmen von guten Kundenbeziehungen und seinem diversifizierten Zuliefererportfolio. In der jüngsten Sitzung des Führungskreises wurde der rosa Elefant offen angesprochen: die Supply Chains werden immer brüchiger und verlangen schon heute höchste Aufmerksamkeit sowie Geduld auf Kundenseite. Man beobachtet außerdem: Die Kundschaft fragt mehr und mehr nach, hält sich konjunkturbedingt mit Aufträgen zurück und jüngst ist ein wichtiger Großkunde abgesprungen. Bereits vor einiger Zeit hatte das Unternehmen in Digitalisierungsansätze investiert und mit intelligenten Bauteilen experimentiert.
Jörg Wunderlich, der geschäftsführende Gesellschafter des Unternehmens, entscheidet sich nach einigen mehr oder weniger schlaflosen Nächten gegen die naheliegende Option, die Geschäfte einfach aufzugeben, und legt sich die Leitplanken für eine Neuerfindung zurecht: anstatt international einzukaufen und seinen Kundinnen und Kunden die geplante Maschine zu liefern, sollen Supply Chains künftig möglichst regional organisiert werden. Außerdem möchte man der Kundschaft künftig nicht einfach nur die Produktions-Hardware „vor die Tür stellen“, sondern flexibilisierte und garantierte Produktionskapazitäten bereitstellen. Das läuft auf eine grundlegende Geschäftsmodellinnovation, neue Abrechnungsmodelle und Supply Chains sowie eine konsequente Digitalisierung der eigenen Prozesse hinaus – ein Auf-den-Kopf-stellen, das Jörg Wunderlich eigentlich frühestens in fünf Jahren angehen wollte.
Die Pläne für dieses Vorhaben hatte der findige Geschäftsführer im Grunde schon seit einiger Zeit im Kopf, aber er sorgte sich, wie er seine Beschäftigten möglichst gut auf diesen Kurs einstimmen könnte und scheute das Risiko. Daher nimmt er sich Zeit, die Pläne sorgfältig mit seinen Führungskräften zu beraten. Da er sich der grundsätzlichen Richtung nun sicher ist, kann er die Impulse aus dem Führungskreis sinnvoll einordnen und sie eher als Bereicherung, statt als Kritik verstehen. Nach einigen diskussions- und kaffeereichen Meetings sind alle sieben Führungskräfte committet. Neben Vorsicht ist auch Neugier zu spüren und man plant die Mitarbeiterversammlung. Mit Blick auf unsere Uhr: In dieser ersten Unfreeze-Phase des Veränderungsvorhabens geht es Jörg Wunderlich und seinem Führungskreis vor allem darum, den Einschnitt plausibel zu erläutern und zu berücksichtigen, dass die Beschäftigten sich wahrscheinlich erstmal als inkompetent erleben werden, ohne dass sie dies so sagen könnten. Er weiß, für die Beschäftigten geht nicht nur Sicherheit verloren, es steht auch Identität auf dem Spiel. Aber er hat Vorkehrungen getroffen: mit dem Betriebsrat hat er frühzeitig gesprochen und ist mit seinem Anliegen, im Zuge der Anpassungen auch die Arbeitsorganisation neu zu gestalten, auf offene Ohren gestoßen. Er rechnet damit, dass seine Mannschaft dies als Gewinn erleben dürfte, der dem drohenden Verlust an Sicherheit und Verlässlichkeit gegenübersteht. Eine interessierte und engagierte Führungskraft hatte vorgeschlagen, die Mitarbeiterversammlung nicht wie üblich als frontale Einbahnkommunikation anzulegen. Stattdessen bittet Jörg Wunderlich seine Beschäftigten nach der ersten Information über das Vorhaben darum, sich in kleinen Gruppen zusammenzufinden und dort Fragen und Bedenken zu sammeln, die abschließend gemeinsam besprochen werden. Von dieser Möglichkeit wird rege Gebrauch gemacht und der Geschäftsführer verspricht, alsbald einen Fahrplan vorzulegen, der die Anliegen ernst nimmt und erklärt, was, wann und wie passieren soll.
Mit dem Einleiten der ersten Schritte tritt das Veränderungsvorhaben in die nächste Phase ein (Moving). Jörg Wunderlich hat in seinem Bekanntenkreis zwei erfahrende Coaches aufgetan und allen Beschäftigten angeboten, im weiteren Verlauf mit ihnen zu arbeiten. Außerdem ist ihm wichtig, dass sich alle im anstehenden Prozess gut orientieren können, dabei greift er auf bewährte Kanäle wie Mitarbeiterinformationen zurück und definiert breit besetzte Projekte, welche sich den anstehenden Themen widmen. Damit rahmt er Nicht-Wissen und Nicht-Können als akzeptierten Schritt auf dem Weg zu neuen Ufern und nimmt dem diffusen Unbehagen etwas Boden. Er schmunzelt bei dem Gedanken, dass sein Vater, der die Geschicke des Unternehmens vor ihm geleitet hat, sicher penibel darauf geachtet hätte, dass möglichst wenig Informationen den Führungskreis verlassen. Heute trifft man sich alle 14 Tage, um die Projekte zu synchronisieren, Abweichungen zu besprechen und zu justieren – und alle, die Zeit und Interesse haben, können an diesen Meetings teilnehmen.
Je weiter das Vorhaben voranschreitet, umso deutlicher wird der Widerstand gegen die Neuerungen in einzelnen Abteilungen. Das Vorhaben ist in die Encounter-Phase eingetreten. Jetzt, wo inhaltlich alles auf den Weg gebracht ist, liegt der Schwerpunkt der Führung darauf, Handlungskompetenzen in geeigneten Weiterbildungs- und Reflexionssettings zu vermitteln und einen interessiert-neutralen Austausch zwischen den „Lagern“ aus Erneuernden und Bewahrenden zu gestalten. Jörg Wunderlich nimmt sich während dieser Phase mehr Zeit, als eigentlich hätte, um sich mit allen Bedenken und kritischen Impulsen, die ihm über den Weg laufen, zu befassen. Mit den Abteilungen, die er als besonders kritisch wahrnimmt, setzt er sich gemeinsam mit der unmittelbaren Führungskraft zusammen, um den Bewahrenden Argumente für die Veränderung und den Erneuernden Argumente gegen die Veränderung zu entlocken. Der darauffolgende Austausch schafft Empathie, ein mehr an Unterstützung und bei einigen einen Zustand, der sich am besten mit „Disagree & Commit“ beschreiben lässt. Die Wege einiger Mitarbeitenden trennen sich nichtsdestotrotz vom Unternehmen. Jörg Wunderlich bemüht sich auch deshalb um besondere Fairness, weil er weiß, wie genau dieser Prozess von allen Mitarbeitenden beobachtet wird.
Nach rund acht Monaten schaut Jörg Wunderlich zurück auf den kräftezehrenden und aufregenden Prozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist. Nichts ist so gekommen, wie er es sich in den schlaflosen Nächten vorgestellt hatte, aber der Kurs stimmt. Diejenigen, die im Zuge der Neuerfindung neu ins Unternehmen gekommen sind, runzeln die Stirn bei den Geschichten von früher und geben sachte zu verstehen, dass das Unternehmen von heute kaum noch als das zu erkennen ist, über das man in den Geschichten hört. In dieser Refreeze-Phase geht es schließlich darum, mehr und mehr Aufmerksamkeit auf stabilisierende Elemente zu legen, die Beschäftigten vom „Dazwischen“ zu entlasten und ihnen Gelegenheit zu geben, mit den neu erworbenen Kompetenzen etwas zu erreichen. Also werden Prozesse beschrieben, ein neues Organigramm entworfen, Betriebsvereinbarungen angepasst und vieles mehr. Vor allem aber wird erst einmal kräftig gefeiert.
Do´s & Don´ts
- Veränderungsprozesse sind komplex, trauen Sie keinem Rezept, das Ihnen einen „Straight Way To Paradise“ verspricht.
- Achten Sie im Umgang mit den Mitarbeitenden nicht nur auf zu erwerbende Handlungskompetenzen, sondern begleiten Sie auch den Identitätswechsel aktiv, beispielsweise in Gesprächen darüber.
- Unterschätzen Sie nicht, wie sehr unbewusste und bewusste Inkompetenz Sand in das Veränderungsgetriebe wirft. Unterstützen Sie mit Coaching, Weiterbildungen und indem Sie signalisieren, dass Inkompetenz (vorübergehend) ok ist.
- Nutzen Sie Wissen, Widerstände und Motivationen der Beschäftigten für den Prozess, beispielsweise indem Sie diese aktiv in Veränderungsprojekte einbinden.
- Betrachten Sie den Weg zum Ihrem Wunschzustand wie eine grobe Karte ohne exaktes Ziel. Vermitteln Sie den Mitarbeitenden, dass Sie wissen, wie es weitergeht, nicht, dass Sie Route und Ziel genau kennen würden. Das gelingt nur Stück für Stück im Rahmen einer regelmäßigen oder zumindest wiederkehrenden und anlassbezogenen Kommunikation.
- Unterstützen Sie nicht nur mit Weiterbildungen, sondern widmen Sie den psychologischen Auswirkungen ausreichend Aufmerksamkeit, beispielsweise indem Sie sich durch erfahrene Coaches unterstützen lassen.
- Suchen Sie frühzeitig Verbündete für Ihr Vorhaben – seien dies Führungskräfte, Schlüsselkräfte, Betriebsräte oder Mitarbeitende mit einer starken informellen Stellung.
- Sorgen Sie sich um Gewinnerinnen und Gewinner genauso wie um Verliererinnen und Verlierer. Die Sorge vor Verlust wird besser zu bearbeiten sein, wenn es Vertrauen in einen fairen Umgang gibt. Dort, wo es sinnvoll ist, suchen Sie nach möglichen Gewinnen für Ihre Mannschaft.
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