Professor Dr. Jörg Büechl beschäftigt sich in seinem Forschungsbereich Mittelstandsmanagement mit Innovation und Management im Familienunternehmen, Personalmanagement, neuen Formen der Arbeitsorganisation und Change-Management. Zudem hat er einen sehr guten Überblick über den chinesischen Markt und ist an der Universität Tübingen Adjunct-Professor für International Business. Im Interview spricht er über den Generationenwechsel und die Bedeutung von New Work, die Chancen der Zusammenarbeit von Start-ups mit mittelständischen Unternehmen in Land.
Als Professor für Mittelstandsmanagement freut es mich sehr, dass das Angebot an maßgeschneiderten wie bezahlbaren digitalen Lösungen im KMU-Sektor stetig zunimmt.
-Prof. Dr. Jörg Büechl
RATIO kompakt: Wie ist aus Ihrer Sicht der baden-württembergische Mittelstand für Veränderungen wie Digitalisierung, Generationswechsel, New Work und in Sachen Innovation aufgestellt?
Jörg Büechl: Baden-Württemberg ist seit Jahrzehnten eines der führenden Innovationsregionen Europas. Diese Leistung ist unter anderem auch auf die hohe Hidden Champions-Dichte zurückzuführen, bei der Baden-Württemberg geschlüsselt nach Einwohnerzahl bundesweit den ersten Platz belegt. Die Innovationsstrategie des Landes, die vorletztes Jahr verabschiedet worden ist, soll sicherstellen, dass Baden-Württemberg auch langfristig wettbewerbsfähig bleibt. Hierbei wird der Fokus insbesondere auf Digitalisierung, KI, Industrie 4.0, Gesundheitswirtschaft, Ressourceneffizienz und Energiewende sowie nachhaltige Bioökonomie gelegt. Der KMU-Sektor profitiert hierbei besonders, als dass die Strukturen des Technologietransfers von der Wissenschaft hin zu den baden-württembergischen KMU weiter ausgebaut werden. Innovation ist nur eine Komponente, Produkte jedoch schnell und erfolgreich am Markt zu platzieren ist jedoch ein weiterer Erfolgsfaktor, bei dem meines Erachtens noch Entwicklungspotenzial besteht
Im Bereich der Digitalisierung wurde der Breitbandausbau in den letzten Jahren mit Baden-Württemberg in der Spitzengruppe erfolgreich weiter vorangetrieben, aber im internationalen Vergleich liegt Deutschland bestenfalls im Mittelfeld. Die derzeitige Diskussion zwischen Bund und Länder in Hinblick auf die Gigabitstrategie lässt auch Rückschlüsse zu, dass der Glasfasernetzausbau in absehbarer Zukunft tendenziell schleppend vorangehen wird. Aus Unternehmensperspektive zeigt sich, dass Corona branchenübergreifend und in allen Bereichen der Wertschöpfung die Digitalisierung weiter beschleunigt hat. Jedoch bauen auch hier nur die Hälfte der Unternehmen ihre digitalen Angebote und Prozesse aus. Wenn man bedenkt, dass Kunden zunehmend über digitale Kanäle angesprochen und betreut werden, und Digitalisierung ein wichtiger Hebel für Ressourceneffizienz und für ein erfolgreiches Krisenmanagement darstellt, dann besteht auch hier noch erhebliches Ausbaupotenzial. Als Professor für Mittelstandsmanagement freut es mich aber sehr, dass das Angebot an maßgeschneiderten wie bezahlbaren digitalen Lösungen im KMU-Sektor stetig zunimmt.
Der Generationenwechsel und die steigende Relevanz von New Work gehen für mich Hand in Hand. Zwar hat der amerikanischen Sozialphilosophen Frithjof Bergmann das Konzept New Work bereits vor Jahrzehnten entwickelt, aber erst vor ein paar Jahren hat dieses breitflächig in unserer Gesellschaft Einzug erhalten. New Work kann als der durch Globalisierung und Digitalisierung induzierte Wandel der Arbeitswelt verstanden werden, wobei Menschen ihre Freiheit zurückerlangen sollen und die Persönlichkeitsentwicklung nach ihren Vorstellungen und Erwartungshaltungen aktiv gestalten. Die Produktivität rückt in den Hintergrund, die persönliche Entfaltung in den Vordergrund. Als mögliche Gründe für diesen Wandel sehe ich einerseits im Wohlstand, den wir uns in den letzten Jahrzenten erarbeitet haben, wie auch im steigenden Fachkräftemangel, sodass sich Angestellte diese Freiheiten und Flexibilitäten einfordern können. Und genau in diesem Punkt sehe ich zwei Herausforderungen: einerseits stellt sich die Frage, wie die unterschiedlichen Werte und Erwartungshaltungen der jeweiligen Generationen bedient werden können, sprich wie die Unternehmen mit diesen Spannungsfeldern umgehen können. Andererseits sind KMU häufig von einer starken und über Generationen wachsenden Tradition geprägt. Um in Zukunft in bestimmten Bereichen Talente zu finden und zu binden, wird es wichtiger werden starre Strukturen aufzuweichen und das eigene Angebot gegenüber den Angestellten individueller zu flexibilisieren. Denn Individualisierung als solches hat sich zu einem gesamtgesellschaftlichen Globaltrend entwickelt. Und es ist davon auszugehen, dass Unternehmen diese Trends auch intern abbilden müssen, um als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen zu werden.
Wo sehen Sie – auch im internationalen Vergleich und mit China - die größten Herausforderungen für unseren Mittelstand? Wie schätzen Sie die Start-up-Szene in Deutschland und in Baden-Württemberg im internationalen Vergleich ein?
Corona war zweifelsohne einer der wichtigsten Digitalisierungstreiber der letzten Jahre. In Hinblick auf die Arbeitswelt gab es in jüngster Vergangenheit daraus resultierend einen regelrechten Mindshift was das Home-Office angeht. Während Home-Office in Deutschland in der Vergangenheit eher punktuell eingesetzt worden ist, hat die Flexibilisierung des Arbeitsorts enorm zugenommen. Das bedeutet aber auch, dass in Zukunft gewisse räumliche Grenzen wegfallen werden. Und dies hat wiederum zur Folge, dass Unternehmen in der Rolle als Arbeitgeber nicht mehr nur im regionalen Wettbewerb, sondern im internationalen Wettbewerb stehen. Das wird sicherlich insbesondere in mittelständischen Unternehmen, die sehr kontinuitätsgeprägt sind, auch noch einmal zusätzlichen Druck auf die oben angesprochene Individualisierung und Flexibilisierung ausüben. Eine weitere Herausforderung ist, dass insbesondere junge Talente, gerne in Unternehmen arbeiten wollen, welche die jüngsten digitalen Technologien verwenden, um auch hier am Zahn der Zeit zu bleiben. In Hinblick auf den derzeitigen Digitalisierungsgrad der KMU ist das ein oder andere Unternehmen für bestimmte Bewerbergruppen nicht hinreichend attraktiv. Der dritte Punkt betrifft Geschwindigkeit. Wenn man sich die Entwicklungen in China anschaut, wie schnell sich Städte entwickeln, wie schnell die Digitalisierung voranschreitet, dann kann hier Deutschland nicht mithalten. Das ist meines Erachtens nach eine Kernherausforderung für deutsche Unternehmen. Wir waren und sind im produzierenden Gewerbe, wie etwa im Maschinenbau oder in der Automobilindustrie, nach wie vor sehr erfolgreich. In diesen Bereichen ist Qualität von enormer Bedeutung. Hier haben wir uns über die letzten Jahrzehnte ein gutes Wissensfundament erarbeitet. Durch die globale Linse betrachtet schwindet aber dieser Wissensvorsprung sukzessiv, was die deutschen KMU zunehmend unter Druck setzt. Ein weiterer globaler Trend ist, dass Menschen vermehrt Lösungen anstelle von Produkten kaufen. Als Beispiel: während in der Vergangenheit der Fokus auf ein eigenes Auto gesetzt wurde, steigt heutzutage die Nachfrage nach Mobilitätslösungen ohne unbedingt ein Auto besitzen zu wollen. Um diese Lösungen kundenspezifisch zielgruppenspezifisch entwickeln und vermarkten zu können, müssen wir so viel wie möglich über die einzelnen Kundensegmente und deren Herausforderungen und Erwartungshaltungen Bescheid wissen. Die Basis hierfür bildet eine möglichst umfangreiche Datenlage. In diesem Bereich haben wir in Deutschland, aufgrund unseres Digitalisierungsgrads aber auch aufgrund unserer Gesetzeslage, im Vergleich zu den USA und China einen erheblichen Wettbewerbsnachteil.
Die Start-up Szene in Baden-Württemberg bzw. in Deutschland unterscheidet sich stark von der Start-up Szene in China oder in den USA. Ich freue mich sehr, dass das Thema Gründung in Deutschland zunehmend an Attraktivität gewinnt und die Politik versucht durch Förder- und Infrastrukturprojekte diese Entwicklung breitflächig zu unterstützen. Jedoch sind wir in Deutschland von der Tendenz her risikoaverser als dies in den USA oder in China der Fall ist. Auch wenn sich das Bild langsam ändert, aber eine sichere Stelle im Konzern oder im Mittelstand wird oft gegenüber einer Tätigkeit im Start-up oder sogar gegenüber des eigenen Gründungsvorhabens vorgezogen. Die US-amerikanische Kultur ist hingegen stark von einer „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“-Mentalität geprägt, nach der es nicht verpönt ist mit einer Idee zu scheitern. Seit der Öffnung Chinas in 1978 ist auch dort das Unternehmertum rasant gestiegen, mit der Möglichkeit die eigene Situation zu verbessern. Hinzu kommt, dass China über einen extensiven Binnenmarkt verfügt und die Regierung gleichzeitig innere Barrieren abbaut, während sie Marktbarrieren nach außen aufbaut, um die eigenen Unternehmen zu schützen und zu stärken. Ein weiterer Aspekt ist die unterschiedliche Investorenlandschaft, die in den USA tendenziell weniger Risiko-affin ist und den Fokus auf schnellere internationale Skalierung setzt als das in Deutschland der Fall ist. Daher dominieren nach wie vor US-Investoren die Finanzierung deutscher Start-ups.
Wo sehen Sie Anknüpfungspunkte zwischen Start-ups und Mittelständlern? Was sind Erfolgsfaktoren für die Zusammenarbeit, woran kann diese scheitern?
Anknüpfungspunkte sehe ich eindeutig in der Nutzung von Synergieeffekten. Der deutsche Mittelstand verfügt im Vergleich zu Konzernen über eingeschränktere Möglichkeiten in Hinblick auf Ressourcen. Kooperationen mit Start-ups ermöglichen ein überschaubareres finanzielles Risiko wie auch ein höheres Maß an Flexibilität. Zudem gibt es mittlerweile auch viele Talente, die sich gezielt ein Start-up Arbeitsumfeld suchen, in dem ihre Ideen umgesetzt werden, und zwar zügig. Für Mittelständler wie auch Konzerne ist es gleichermaßen herausfordernd diese Personen zu rekrutieren. Kooperationen bieten die Möglichkeit dennoch von diesem Wissen zu profitieren und somit gemeinsam zu wachsen.
Ein besonders relevanter Erfolgsfaktor für eine gelungene Zusammenarbeit ist das Thema Vertrauen. Dieser Faktor ist insbesondere wichtig, da innerhalb der Kooperation die Abhängigkeit des Start-ups oftmals höher ist. Vertrauen basiert auf gemeinsamen Werten und Verhaltensweisen. Daher ist ein weiterer Erfolgsfaktor, dass zwischen Start-up und Kooperationspartner eine gemeinsame Basis besteht, insbesondere hinsichtlich der Werte und Vision, aber auch in operativer Hinsicht, was beispielsweise gut abgestimmte Schnittstellen, Prozesse und Vereinbarungen angeht. Ein Mindestmaß an Offenheit und Unternehmergeist seitens des mittelständischen Kooperationspartners ist ein weiterer Erfolgsfaktor, der zu einer bestmöglichen Passung hinsichtlich der gemeinsam geteilten Werte und Haltung (Mindset) führt. Weitere Kriterien, die über Erfolg und Misserfolg entscheiden ist wie prioritär die Zusammenarbeit des mittelständischen Kooperationspartners eingestuft wird und inwiefern der Fokus auf kurz- bzw. langfristige Profitabilität bzw. auf monetäre Effekte gelegt wird. Hierbei ist es von großer Bedeutung, dass die gegenseitigen Erwartungshaltungen nicht nur transparent kommuniziert, sondern auch nachhaltig entsprochen werden.
Der RKW BW e.V. hat mit „Start-up meets Mittelstand“ ein Projekt gestartet, das Mittelständler und Start-ups bei der Kooperation nach dem Matching unterstützt, quasi als Brückenbauer und Innovationsmanager. Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrer Praxis mit Kooperationen zwischen Start-ups und mittelständischen Unternehmen gemacht?
Entscheidend ist hier wirklich, dieses komplexe Thema ganzheitlich zu betrachten, als dass die Passung auf allen Ebenen gegeben ist: auf der ersten Ebene, der Mindset-Ebene, stellt sich die Frage, ob eine Offenheit für die Themen gegeben ist und ob es eine gemeinsame Haltung gibt, wie mit Fehlschlägen umgegangen wird, um eine belastbare, nachhaltige und vertrauenswürdige Lernkultur zu entwickeln? Auf der zweiten Ebene, der Handlungs-Ebene, muss transparent erkennbar sein, was die gegenseitige Erwartungshaltung ist, sowohl mit Fokus auf Produkt-/Technologieentwicklung als auch mit Fokus auf Finanzierung bzw. Profitabilität. Darüber hinaus, harmoniert die Zusammenarbeit auf menschlicher, aber auch auf Prozessebene? Und auf der dritten Ebene, der Kultur-Ebene, besteht die Möglichkeit eine gemeinsame Kultur zu entwickeln, sprich das Umfeld, in dem das Mindset und die Zusammenarbeit gedeihen kann? Hierbei steht im Vordergrund, dass die Unternehmensführung des Kooperationspartners hinter dem Projekt steht und dieses aktiv vorantreibt. Diese gesamtheitliche Betrachtung ist meiner Erfahrung nach von enormer Bedeutung.
Ein weiterer Aspekt betrifft die langfristige Kooperationsform. Ist es gewünscht diese Kooperationsform langfristig als Allianz fortzuführen oder gibt es Bestrebungen das Start-up zu integrieren? Es gibt viele Gründe, die sowohl für die eine wie auch für die andere Option sprechen. Interessant ist jedoch zu erwähnen, dass bei einer Integration die Innovationsfähigkeit der integrierten Start-up Einheit sinkt, während die des kooperierenden Mittelständlers steigt. Auch kann eine solche Integration für bestimmte Angestellte des Start-ups unattraktiv erscheinen, da sie befürchten, dass die Start-up Kultur samt informellen Prozessen und die dazugehörige Flexibilität darunter leiden.
Was würden Sie sich von Politik, Mittelständlern und Start-ups für die Zukunft wünschen?
Handlungsbedarf sehe ich insbesondere im Bereich der Politik. Der öffentliche Apparat ist sehr stark von Kontinuität geprägt, was in gewisser Weise auch nachvollziehbar ist, aber wodurch die Herausforderung besteht, auf die Rahmenbedingungen und Bedürfnisse von Start-ups einzugehen…und zwar in einer angemessenen Geschwindigkeit. Sehr viel säuft in bürokratischen Prozessen regelrecht ab. Das war auch in der Corona-Pandemie zu erkennen: während Konzerne relativ zügig Rettungspakete in Milliardenhöhe erhalten haben, haben weitaus überschaubarere Hilfen Start-ups flächendeckend nicht rechtzeitig erreicht. Ferner lebt ein Start-up auch von der Möglichkeit mit der Auftragslage atmen zu können. Jedoch sind die arbeitsrechtlichen Hürden Freelancer zu beschäftigen im internationalen Vergleich verhältnismäßig hoch, was die notwendige Flexibilität dann oftmals nicht zulässt. Gesamtgesellschaftlich wünsche ich mir eine etwas offenere Haltung gegenüber dem Konzept Trial and error. Es ist nach wie vor relativ weit verbreitet, dass Fehltritte oder gar das Scheitern mit mangelnder Vorbereitung, Kompetenz und Disziplin gleichgesetzt und stigmatisiert wird und nicht als notwendige Konsequenz, wenn neue Wege beschritten werden. Ich bin mir sicher, dass eine offenere Haltung gegenüber einer Fehler- bzw. Lernkultur sowie eine gesteigerte Wertschätzung gegenüber Gründungen die Start-up-Szene zusätzlich vorantreibt.